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In dem Bemühen, Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten, kommt man nicht umhin, bestimmte Fakten zu vermitteln. Während der ersten sechs Lebensjahre ist das auch vergleichsweise einfach, da es kaum pädagogische Konkurrenz gibt. Will heißen: Die Kinder hängen an deinen Lippen und empfangen aus ihnen die Erleuchtung in Form sachdienlicher Mantras („Putz dir die Zähne, sonst…!“), die niemals (und wenn, dann aber nur aus schierer Boshaftigkeit) hinterfragt werden. Querschläger für die frühkindliche Bildung kommen meist aus der eigenen Altersgruppe („Luca hat gesagt, es gibt Spinnen, die fliegen können!“), können aber meist unter Aufbietung aller Autorität und nüchterner Faktenanalyse („Sag Luca, er spinnt!“) ausgeräumt werden.

Das ändert sich schlagartig, wenn das Kind in die Schule kommt. Nun muss das Elternhaus schmerzvoll zur Kenntnis nehmen, dass sich werktags zwischen 8 und 13 Uhr eine neue welterklärende Instanz breit macht, die durch sinnstiftende Rituale und freundliche Zugewandtheit auch sofort das Vertrauen der ABC-Schützen erwirbt. Diese wird fortan stets als zitierwürdige Quelle für Informationen aller Art angepriesen („Frau Bernsen hat gesagt, das gibt es nicht!“), um elterliche Belehrung per Direktveto zum Schweigen zu bringen. Immer muss sich nun Vaters Weisheit mit der der Grundschullehrkraft messen wie der Brockhaus mit Wikipedia. Der König ist tot, es lebe der König. Zähneknirschend akzeptiert man die Entthronisierung, was tut man schließlich nicht alles zum Wohle des zukünftigen Freigeists und Querdenkers. Hinterfragen ist alles.

Als Lehrer einer weiterführenden Schule hingegen reibt man sich die Hände. Lehrkräfte werden ob ihrer Weltgewandtheit angehimmelt? Das könnte man doch bei der Vermittlung schulischer Bildungsinhalte ausnutzen! Doch kaum sind die Schulbücher des fünften Jahrgangs ausgepackt, schon heben sich einzelne kritische Zeigefinger: „Mein Vater hat mir das ganz anders erklärt!“ – „Meine Mutter sagt, das brauche ich sowieso später nicht mehr!“ – „Meine Eltern sagen, das stimmt nicht!“

Man versteht die Welt nicht mehr. Hat sich das Blatt nun erneut gewendet? Ist der König schon wieder gestürzt? Abermals nimmt man die eigene Machtlosigkeit hin. Aber was tut man nicht alles zum Wohle des zukünftigen Freigeists. Hinterfragen ist all…Moment. Das ist kein Hinterfragen. Hier werden persönliche Ansichten nachgeplappert, Kinder im Hausruckverfahren in die elterliche Filterblase hineingezogen. Bild dir meine Meinung! Lass dir bloß vom Lehrer nichts erzählen! Wir halten das Nacharbeiten am Freitagnachmittag nicht für sinnvoll! Der Junge hat keine anderen Hosen! Die Lehrer gehen doch auch zu Edeka!

Die ehemals vereinigte Eltern-Lehrer-Front hat Risse bekommen.

In der ersten Sitzung meines pädagogischen Seminars zum Beginn des Referendariats hatten wir die Aufgabe, aus mehreren Schildern mit Rollenbildern dasjenige auszuwählen, das uns als Lehrperson am ehesten charakterisiert. Ich hatte mich damals für „Wissensvermittler“ entschieden. Heute würde ich mich wohl eher für „Horizontöffner“ entscheiden, wenn es das gegeben hätte. Ich glaube, die Schule kann keinen wertvolleren Beitrag leisten als Kindern zu zeigen, dass es außerhalb ihrer eigenen vier Wände noch zahlreiche andere Realitäten gibt (und damit sind keine virtuellen gemeint!): Klassenfahrt mit dem Zug (es gibt zahlreiche Achtklässler*innen, die das noch nie gemacht haben!), Aufnahme von Austauschschüler*innen, römisches Essen probieren, in einer fremden Stadt nach dem Weg fragen, ohne Schuhe durchs Watt laufen, mit der ganzen Klasse ein Produkt herstellen, den Sonnenuntergang anstelle des Smartphones betrachten – all das hilft dabei, die Schranken im Kopf abzubauen. Und erst, wenn auch meine Versuche, Schülerinnen und Schüler zum ständigen kritischen Hinterfragen zu führen, hinterfragt werden – dann ist meine Mission erfüllt.

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