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„Können wir nicht mal was Schönes machen, Herr Hinderks? Nie machen wir was Schönes!“ Voller Enttäuschung, ja fast Verbitterung blickt mich die Schülerin aus treuen Augen an, ihre Nachbarin nickt fast unmerklich beipflichtend, aus der Tiefe des Raumes ist ein unterschwelliges zustimmendes „Mmmhm“ zu vernehmen. Bald ist Weihnachten und was machen wir hier? Wertetabellen aufstellen? Was würde Jesus dazu sagen?!

Völlig entgeistert ringe ich nach Worten: „Was denn?! Noch schöner als Funktionsgraphen, Prismenvolumina, gelöste Gleichungen?“, und muss doch selber schmunzeln dabei. Nein, so einer bin ich nicht. Ich weiß, dass so etwas nur ein homöopathisch kleiner Anteil der Schülerschaft schön findet – und diejenigen würden es niemals öffentlich zugeben. Aber ich finde es schön. Es ist, als ob man ein Zimmer aufgeräumt hat – selbst wenn es im Rest des Hauses aussieht wie auf dem Mars.

Die Klasse möchte mein schockiertes Schweigen konstruktiv nutzen, also traut sich der Mutigste: „Wir könnten doch was spielen!“

Den Ball spiele ich sofort volley zurück: „Okay!“, ernte dafür aber auch nur hochgezogene Augenbrauen: „Och nöö, aber bitte nicht schon wieder so ein Mathespiel!“

Denn das ist die Krux, dass Schülerinnen und Schüler unter „spielen“ etwas anderes verstehen als das lehrende Personal, das den Unterricht selbstverständlich nur mit sinnvollen, pädagogisch wertvollen und zum Denken anregenden Inhalten füllen möchte, während die Bildungsrezipienten auf Spaß ohne viel Nachdenken aus sind. Doch diese Unterteilung zwischen Lern- und Spaßspielen ist nur theoretischer Natur: Sicher, das Spiel ist als Lernmethode mittlerweile voll akzeptiert und Teil des Kanons (misstrauisch beäugt von Partnerdiktat und Gruppenpuzzle, die sich für etwas Besseres halten). Denn, so die pädagogische Begründung, ein Spiel spielt man, um zu gewinnen – und um zu gewinnen, muss man es beherrschen, durchdringen. Und schon hat man, ohne es zu merken, schwupps, etwas gelernt! Pädagogik durch die Hintertür, sozusagen. Das aber gilt nicht nur für konzipierte Lernspiele wie „Trio“, „Guthaben und Schulden“ oder „Hin und her“, sondern für jedes Spiel, auch für die Dauerbrenner, die anstatt der „Mathespiele“ immer wieder gewünscht werden: „Was bin ich?“ trainiert die Systematisierung und Kategorisierung von Dingen und Personen, „Werwolf“ das taktische Agieren, „Rotes Sofa“ die Gedächtnisleistung, „Montagsmaler“ kreative Fähigkeiten, „Galgenmännchen“ Kombinationsvermögen – alles Dinge, die man auch prima im Mathematikunterricht gebrauchen kann!

Solche Infos helfen, die Schere im Kopf zu schließen und kurz vor Weihnachten auch mal Fünfe gerade sein zu lassen. Manchmal jedoch wird die eigene Legitimationsfähigkeit doch stark strapaziert: Da schlagen ein paar Sechstklässler vor, „Nachts im Museum“ zu spielen: Eine Person spielt Museumsführer, eine andere einen Museumsbesucher, der Rest der Gruppe nimmt als Skulpturen witzige Körperhaltungen ein und dann muss einer den anderen zum Lachen bringen oder so ähnlich.

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Nun ja. Da spreche ich doch lieber den „Gewinnen-wollen-Reiz“ im Schülergehirn an, zum Beispiel mit wöchentlich wiederkehrenden Übungen inklusive Punktesystem und Highscoretabelle. Denn nichts beflügelt Motivation so stark wie das „Besser-als-der-da-sein-Wollen“. Ein billiger pädagogischer Taschenspielertrick, für den ich mich zugegeben manchmal etwas schäme.

Der beste Einsatz von Spielen im Unterricht aber bleibt mir aus Klasse 8 in Erinnerung: In der Unterrichtseinheit „Wahrscheinlichkeiten“ lasse ich die Kinder selbst Glücksspiele ausdenken und mit Streichhölzern als Spielgeld ausprobieren, wobei sich jeder gegenseitig am Spieltisch besuchen kann. Nichts illustriert einen positiven Erwartungswert einer Wahrscheinlichkeitsverteilung so schön wie ein völlig verblüffter Schüler, dem alle die Bude einrennen, weil man bei seinem Glücksspiel einfach immer gewinnt! Und die moralische Message („Finger weg vom Glücksspiel!“) ist sogar schon eingepreist. In diesem Sinne: Spielt, als gäbe es kein Morgen! Jesus hätte es sicher auch so gewollt.