„…aber ein bisschen instant bitte!“ (Folge 124)

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Ich kann mich nicht mehr konzen…,

bring keinen Satz mehr zu En…,

wo ist mein Handy?

- Alligatoah

Lieber Leser, liebe Leserin, ich werde dir heute nicht den Gefallen tun, sofort mit der Tür ins Themenhaus zu fallen. Ich weiß nämlich, dass du eine Tugend besitzt, deren gesellschaftlicher Stellenwert sich im Sinkflug befindet. Du hast dir die Zeit genommen, einen geschriebenen Artikel mit eigenen Augen zu lesen. Weder lässt du Alexa mit ihrer kühlen Intonation vorlesen noch googelst du nach der Video-Zusammenfassung, die dir in knappen Worten schnell erklärt, worum in es in diesem Artikel geht. Und dass du nach diesem Beginn des Herumschwafelns und der Leertextproduktion, gegen die „Lorem ipsum“ ein packender Thriller ist, immer noch dabei bist und weiterliest, kann nur eines bedeuten: Du hast die Kraft der Geduld. Und bist damit herzlich willkommen.

Wenn du wie ich aus einer früheren Generation stammst als der aktuellen – keine Ahnung, wann genau die begonnen hat – bist du vielleicht noch in die harte Geduldsschule gegangen, dann hast du das Geduldshandwerk noch von der Pike auf gelernt, ich sage nur: Kinderprogramm im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Erstmal wegen ausufernder Tennisturniere um eine halbe Stunde (also gefühlt einen halben Tag) verschoben, dann kommt nochmal fünf quälende Minuten textbasierte Programmvorschau zu den Klängen von I like Chopin, bevor dann auch noch eine Ansagerin (!) die „lieben Mädchen und Buben“ begrüßt, denn wer wollte sich schon einfach so ins Abenteuer Trickfilmschau stürzen, ohne angemessen darauf vorbereitet worden zu sein?

Ich habe mir geschworen, in meinen Artikeln nicht zu oft das Wort „früher“ zu verwenden, es lässt mich älter wirken als ich bin. Aber heute muss es sein. Früher also, da dauerte einfach alles viel länger und man musste ständig warten. Auf die Sommerferien, aufs Mittagessen, auf drei Uhr, wenn man sich endlich verabreden durfte, auf das Ende der Autofahrt auf der halben Weltreise nach Emden und natürlich auf Weihnachten, das früher, da bin ich ziemlich sicher, nur alle zwei Jahre stattfand.

Von der Notwendigkeit, des Eintretens eines Ereignisses zu harren, wurde man dann immer mehr erlöst. In der Modem-Ära der ersten Internetanschlüsse konnte man sich nach dem Betätigen des „Download“-Buttons noch einen Kaffee machen, bevor die Worddatei dann angekommen war. Spätere Online-Werbespots verabschiedeten sich dann offiziell vom Ladebalken, denn es gab ihn nicht mehr. Wer in den Achtzigern im Katalog einen Artikel per Formular bestellte, übergab diesen der Gnade Gottes und durfte sich ein paar Wochen später, wenn die Bestellung längst vergessen war, über die Ankunft eines mysteriösen Pakets freuen – heute kann er den Aufenthaltsort dieses Pakets vom Zeitpunkt der Bestellung an minutiös verfolgen und den Paketboten mit offener Tür begrüßen – dafür dauert das Auspacken nun viel länger, weil man es filmen und online stellen muss. Jede Information ist sofort (oder „instant“, wie die jungen Leute sagen) verfügbar, also will man sie auch – wer wartet schon auf etwas, das schon da ist? Selbst Popsongs werden immer kürzer und beginnen gleich mit dem Refrain, um den gestressten Hörer nicht allzu sehr auf die Folter zu spannen.

Diggi, wann kommst du endlich zum Thema? Was hat das hier mit Schule zu tun? Cool bleiben. Ihr habt bis jetzt gut durchgehalten und eigentlich müsste der Transfer klar sein: Eine der wichtigsten Anforderungen für schulischen Erfolg ist es nun einmal, sich über längere Zeit mit jeder beliebigen Aufgabe auseinandersetzen zu können, die einem auf den Tisch flattert. Und wer die Lösung nicht sofort hinschreiben kann und erstmal überlegen muss oder wem zwar das Ziel, nicht jedoch der Weg dorthin klar ist, der braucht Geduld. Natürlich kann man in der Schule schnell mal den Nachbarn, die Lehrkraft oder das Internet fragen, um solcherlei Anstrengung zu umgehen. Das Problem ist nur – im Berufsleben gibt es für viele Schwierigkeiten keine solche schnelle Auflösung. Sicher, man kann im Netz eine gute Frage auf der gleichnamigen Seite (es gibt auch noch andere schlechte Seiten!) stellen – aber dann heißt es wieder warten, bis irgendein Troll gefährliches Halbwissen absondert oder gleich auf Google verweist.

Ein Vorschlag fürs Training: Nehmt euch irgendeine Aufgabe vor, die sich nicht innerhalb von einer Minute lösen lässt (z.B. die Rätsel von Heinrich Hemme auf Spektrum.de) und stoppt die Zeit, die ihr durchhaltet, bis ihr auf den Lösungsbutton drückt. Das ist euer Geduldsrekord.

Und noch einer: Lewis Carroll (der Autor von Alice im Wunderland) pflegte vor dem Einschlafen über schwierige Probleme nachzudenken, vorzugsweise mathematischer oder logischer Natur – er nannte sie seine „pillow problems“. Der Vorteil: Vor dem Einschlafen hat man meistens nichts Dringendes mehr vor.

Und für den Unterricht: Offene Aufgaben, die mehrere Herangehensweisen erlauben. Keine Zeitbegrenzung. Keine Vorgaben. Und für die ganz hoffnungslosen Fälle: Verfasse einen Aufsatz, in dem du so viele Antworten wie möglich auf die Frage findest: Warum sitze ich hier und schreibe diesen Aufsatz?

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