„Brille ab, Augen auf!“ (Folge 127)

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Eine junge Frau steht in der Fußgängerzone, im Arm eine schwarze Gitarre, spielt etwas von Coldplay oder Ed Sheeran und singt dazu. Schön singt sie. Ich gehe vorbei, lächle und nicke ihr zum Gruß zu. Ich könnte ihr länger zuhören, aber meine Empathie und mein schlechtes Gewissen lassen mich den Schritt beschleunigen. Empathie deshalb, weil die junge Frau meine Schülerin im Oberstufen-Mathekurs ist und ich nicht will, dass sie das Gefühl hat, in einer Prüfungssituation zu sein. Und schlechtes Gewissen deshalb, weil ich meiner Betriebsblindheit voll auf den Leim gegangen bin. Denn aufgrund meiner Erfahrungen im Unterricht habe ich die Schülerin in die Schublade „nett, aber mathematikunbegabt“ einsortiert und die Schublade aus Versehen auch noch abgeschlossen und den Schlüssel wohl verlegt. Und dafür schäme ich mich. Denn in Wirklichkeit ist die Dame mit der Gitarre nämlich nicht nur nett und vielleicht mathematikunbegabt, sondern auch sehr musikalisch. Eine Facette ihrer Persönlichkeit, die mir bisher entgangen war. Und das wegen eines der schlimmsten Denkfehler, die einen als Lehrperson heimsuchen können und die man sich deshalb mit aller Kraft abtrainieren sollte. Und so äußert er sich:

Als unterrichtendes Personal neigt man dazu, die Welt durch die Brille seiner Fächer zu sehen. Und weil man den am Fach Partizipierenden Beurteilungen darüber auszustellen hat, wie sie sich in selbigem so anstellen, läuft das Kennenlernen der jungen Leute gewissermaßen durch einen Filter ab: Mathematisch begabt oder nicht? Fleißig, ausdauernd, frustrationstolerant im Umgang mit Zahlen oder eben nicht? Haben sie das, was ich gerne den „mathematischen Blick“ nenne? Hm, da sollte wohl jemand seine mathematische Brille einmal absetzen. Doch dieser Umgangsmodus lässt sich kaum vermeiden, wohl aber der fatale Fehlschluss, der da flapsig formuliert lautet: „Wenn sie in meinem Fach nichts draufhat, dann bestimmt auch in allen anderen nicht.“ Bumm.

Diese Einstellung ist der Lehrkraft vielleicht nicht einmal bewusst (auch wenn ich sie auch schon explizit ausgesprochen gehört habe), aber sie wird der Person der Schülerin in keinster Weise gerecht.

Zur Beendigung eines jeden Schuljahres gehört das Ringen um Zensuren und Abschlüsse, begleitet vom einmütigen Tenor der Festreden, dass genau diese Zensuren nichts über die Persönlichkeit der jungen Leute aussagten und andere Eigenschaften viel wichtiger seien. Solche Sätze gehören nicht ans Ende des Schuljahres, sondern auf die Arbeitsmappe, die man jeden Tag vor sich liegen hat! Das wäre eine sinnvolle Sofortmaßnahme. Weitere sind die folgenden Fragen, die man sich einmal laut stellen sollte:

Kann es sein, dass Schüler*innen unterschiedliche Stärken und Schwächen auf unterschiedlichen Gebieten haben?

Hatten Sie das Glück, eine enthusiastische Deutschlehrerin gehabt zu haben, dafür aber einen demotivierten Mathematiklehrer?

Könnte ich selbst mehr dafür tun, damit sie in meinem Unterricht bessere Leistungen erzielen?

Und schließlich, die wichtigste: Ist das Ziel des Unterrichts eigentlich die Hervorbringung von Universalgenies?*

Sehr hilfreich ist auch das Kennenlernen der Schüler*innen anderen Kontexten als dem eigenen Fachunterricht: Betriebspraktikum, Projekttage, Klassenfahrt, Sportfest oder auch nur die Spielstunde am Ende des Schuljahres – fast immer wird man Wesenszüge, Interessen und verborgene Stärken entdecken, die sich im Mathematikunterricht gar nicht zeigen konnten. Und im besten Fall kann man diese Talente sogar ummünzen und auch gewinnbringend für den eigenen Unterricht nutzen. Viel wichtiger aber ist das Gefühl für den Wert der Person, selbst wenn es für alle Zeiten unausgesprochen bleibt.

Und nächstes Mal bleibe ich doch stehen.

Schöne Sommerferien euch allen!

* Siehe auch Episoden 125 und 126: „Darauf kannst du dir was allgemeinbilden“

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