Meine Damen und Herren, bitte erheben Sie sich im Geiste. Vielleicht rücken Sie bei der Gelegenheit auch Ihre geistige Krawatte zurecht, sofern Sie eine besitzen. Die heutige Ausgabe von Mr. HOs Wanderzirkus der Eitelkeiten ehrt einen der letzten Helden des Lehrerberufs. Nicht aufgrund seiner fachlichen Eignung oder seiner pädagogischen Fähigkeiten, sondern wegen einer anderen Gabe, die heute im Zeitalter der Feedbackgesellschaft und der Nutzenoptimierung von Lernzeit kaum noch Beachtung findet: das Geschichtenerzählen.

Der Mann, dessen Schüler zu sein ich in meiner neunten und zehnten Klasse die Ehre hatte, hat es allein mit dieser Fähigkeit in der damaligen Abschlusszeitung auf drei, in Worten: drei, mit Stichpunkten engbedruckte Seiten gebracht. In mühevoller Kleinarbeit (gibt es eigentlich auch nicht mühevolle?) hat meine damalige Klasse das Gold aus den zahlreichen Äußerungen dieses Helden ausgesiebt und in drei Unterkategorien (was er alles ist, was er alles hat, was er alles kann) verschriftlicht. Hier kommt daraus das Best-of, natürlich im O-Ton des damaligen Verfassers, niedergeschrieben nach Gedächtnisprotokoll:

Er könnte fünf Fächer unterrichten, wenn er wollte, er fliegt an einem Wochenende mit dem eigenen Privatflugzeug von Emden nach Italien, er fährt dieselbe Strecke auch mit dem Fahrrad, er könnte von seiner monatlichen Einkommensteuer drei Familien ernähren, er kennt eine Stelle in der Wüste, wo Salzwasser aus dem Boden kommt, wenn man dort gräbt (WTF?!), er hat 40000 Vokabeln in drei Jahren gelernt, er ist schon einmal mit seinem Hund (einem Nachfahren eines Deutschen Meisters) und seiner Pistole (die gleiche wie Columbo!) auf die Jagd nach einem entflohenen Häftling gegangen, er spielte in der Studenten-Nationalmannschaft, kam einmal vier Wochen lang mit 150,- DM (jawohl, DM!) aus, er klaute früher als Kind Kartoffeln und kochte sie auf einem Benzinkocher, war der erste an der Schule, der ohne Schlips und Kragen gekommen ist, er hat den ersten deutschen Schäferhundverein gegründet, er besitzt Statuen im Garten, die den Wert eines Kleinwagens haben, er kennt die Bibel auswendig (hier hat der Verfasser, offenbar im Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage, ein Fragezeichen ergänzt), er ist mit einer Freifrau mit Ahnentafel bis ins 13. Jahrhundert verheiratet, er besitzt noch zwei Skalpelle aus seinem ersten Beruf (Unfallarzt), mit denen er Hunde operiert (eins davon sogar zum Klappen), er war als Kind in 16 Vereinen, studierte ein paar Semester in Harvard, hörte als Kind heimlich unter der Bettdecke BBC, er führte ständig ein Handy bei sich (nota bene: wir befinden uns gedanklich im Jahr 1997!) und – nun schließt sich der Kreis – sein Name steht auf der Liste jener 26 Unerschrockenen, die vor nunmehr 45 Jahren die Integrierte Gesamtschule Aurich-West gegründet haben (siehe auch: Vierzig! Jahrbuch IGS Aurich-West 2012, S. 28).

Sein Name ist Hermann Jakobs, seine Fächer Deutsch und Geschichte, sein Leben eine Legende.

Was wir Schüler damals zum Zwecke allgemeiner Belustigung über eine vermeintlich selbstverliebte Lehrerpersönlichkeit aneinanderreihten, gibt heute, 20 Jahre später, Auskunft über eine wechselvolle und interessante Biografie. Mir ist schleierhaft, welche Themen wir damals im Unterricht behandelt haben (ich erinnere mich ziemlich dunkel an Hitlers Familienstammbaum und an Dürrenmatts „Richter und sein Henker“), aber allein die Geschichten waren das nicht gezahlte Eintrittsgeld wert.

Diese Erfahrung nachzuholen ist unmöglich, aber vielleicht gibt es sie noch, die Geschichtenerzähler unter den Pädagogen. In der Lehrerumfrage der jeweils aktuellen Abschlusszeitung des 10. Jahrgangs findet sich meistens eine entsprechende Rubrik, wo die einschlägigen Kandidaten genannt werden. Also: Hospitieren, zurücklehnen, zuhören!  Und an Hermann denken!