Warum bist du Lehrer?

Schüchtern reicht der kleine Carl seinem Lehrer Herrn Büttner die Schiefertafel. Darauf steht nur eine einzige Zahl: 5050. Keine Rechnungen. Die Zahl auf Carls Tafel ist die Summe aller natürlichen Zahlen von 1 bis 100. Carl hat sie ausgerechnet, indem er immer zwei Summanden paarweise zusammenfasste: 1 und 100, 2 und 99, 3 und 98 und so weiter. Am Ende hatte er fünfzigmal die Summe 101. Für diese Multiplikation brauchte er nicht einmal eine Nebenrechnung. Carl Friedrich Gauß wurde später zu einem der größten Mathematiker aller Zeiten.

Ich mag diese Geschichte sehr. Nicht nur, weil der kleine Schüler als Underdog dem gestrengen, aber geistlosen Pauker die lange Nase zeigt, sondern auch, weil eine Sehnsucht darin steckt – die Sehnsucht, einem solchen Menschen auch einmal begegnen zu dürfen. Ein Mensch, dessen Genie sich bereits in seiner Schulzeit offenbart, im Unterricht, an einem beliebigen Tag, an einem beliebigen Thema.

Der Mathematiker und Philosoph Nassim Taleb bezeichnet solche Phänomene als Schwarze Schwäne. Ein Schwarzer Schwan ist für ihn etwas extrem Seltenes, aber Mögliches, Unvorhersehbares, das große Auswirkungen auf das Leben eines Menschen oder sogar aller Menschen hat. Lange Zeit dachte man in Europa, es gäbe keine schwarzen Schwäne, bis ein niederländischer Seefahrer in Australien welche entdeckte. Selten, aber möglich.

Die Möglichkeit eines solchen Genies ist zwar gering, aber vorhanden. Wir neigen dazu zu glauben, dass man mit viel harter Arbeit zu jemandem wie Gauß, Mozart, Picasso (oder meinetwegen Bowie, Jobs, Rowling) werden könnte, weil wir die schiere Masse all jener, die an der Geniewerdung gescheitert sind, nicht sehen. Nein, die Schwarzen Schwäne spielen in einer eigenen Liga, sind mit besonderen Anlagen oder Gaben ausgestattet – aber sie alle sind einmal zur Schule gegangen, haben dem aufmerksamen Beobachter vielleicht schon früh einen Blick auf ihre besondere Natur gewährt. Man muss sie nur wahrnehmen. Und bis dahin geduldig warten. Wird das Warten erhört? Folgt man dem allgemeinen Pessimismus, die Jugend sei dank medialer Dauerbefeuerung zu keinem klaren Gedanken mehr in der Lage oder wirft man einen genaueren Blick auf die Wissenschaft: Genies, mithin kreative Menschen lassen sich stärker von Sinnesreizen ablenken, es dringt einfach mehr Information durch den Filter, was dann zu ungewöhnlichen Verknüpfungen führt. Doch schon ist man dem logischen Fehlschluss erlegen: Sich stark ablenken zu lassen, deutet nicht im Umkehrschluss auf einen kreativen Kopf hin.

Wie dem auch sie: Die Schaffenskraft und Beweglichkeit des menschlichen Geistes fasziniert mich. Die Art, wie Menschen sich etwas geistig aneignen, sich selbst erklären, sich Eselsbrücken bauen. Seitdem ich Lehrer bin, warte ich auf meinen Gauß-Moment. Immer wieder stelle ich Herrn Büttners Problem meinen Schülern, Jahrgang für Jahrgang, und beobachte gespannt, ob sich nach zwei Minuten schon ein Finger hebt. Noch lässt mich die Statistik warten. Die Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz getroffen zu werden, liegt bei etwa 1 zu 6 Millionen. Schwindend gering, und doch geschieht es. Jeden Tag.

Dabei wäre ich alles andere als vorbereitet, sollte ich Gauß 2 einmal begegnen. Um es mit den Worten des Jokers zu sagen: „I’m a dog chasing cars. I wouldn’t know what to do with one if I caught it.“

Dennoch bleibt die Faszination der Möglichkeit.

Ich bin nicht deshalb Lehrer geworden.

Aber deshalb bleibe ich es.