„Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen“ (Folge 139)

Jeder kennt die Geschichte. Manche sind sogar davon überzeugt, dass sie an ihrer eigenen Schule passiert sind. Zumindest kennen sie jemanden, der direkten Kontakt zu jemandem hat, der das selbst miterlebt hat:

Das Thema der Deutscharbeit lautet „Was ist Mut?“ Ein Schüler steht nach fünf Minuten auf, geht zum Lehrerpult, gibt ein leeres Blatt ab und sagt: „Das ist Mut.“ Er bekommt eine Eins für die Arbeit.

Die Geschichte hat mich begeistert, als ich sie das erste Mal gehört habe. Mein cineastisches Gehirn hat sie direkt auf meine innere Leinwand gebracht: Zeitlupeneinstellung. Alle Mitschüler*innen applaudieren. High Five mit der ersten Reihe. Der Lehrer nickt schmunzelnd und respektvoll. Der Schüler – komischerweise ist es immer ein Junge – wirft sich die Collegejacke über und grüßt zum Abschied.

Bild Mr. HO 134kl

Tolle Geschichte – aber so nie passiert. Willkommen im Reich der modernen Märchen, urban legends oder Großstadtmythen. Mysteriöse Erzählungen, die sich durch alle Gesellschaftsschichten fressen, nur gelegentlich etwas abgewandelt oder an den Ecken abgeschliffen vom vielen Weitererzählen. Fast jeder hat sie schon einmal gehört – ist also zumindest ein Körchen Wahrheit dran, wenn nicht gar ein ganzes Müsli Wahrheit? Auch lange nach Immanuel Kant, der den Menschen damals zurief, sie sollten sich ihres eigenen Verstandes bedienen, haben selbige noch ihren Spaß an den Märchen der Moderne. Oftmals geht es ums Gruseln, manchmal aber auch nur darum, sein Gegenüber in Erstaunen zu versetzen. Und wo würden solche Legenden besser gedeihen als in der Schule, dem Hort des gesicherten Wissens?

Da wäre zum Beispiel die Schülerin, die die Klausur inklusive Musterlösung aus der Lehrertasche (oder vom Lehrerpult) stibitzt und dann beim Testtermin die gestohlene Version als ihre eigene ausgibt. Kommentar des Lehrers: „Sehr schön, Sie haben sogar die Aufgaben bearbeitet, die der Kopierer nicht mehr erwischt hat!“ Autsch.

Eine sehr schöne moderne Legende habe ich von einem ehemaligen Mitschüler gehört: In dessen Kunstkurs (oder im Kurs eines Bekannten des besten Freundes) gab der zerstreute Kunstlehrer zu Beginn eine Anwesenheitsliste herum, auf die jemand den Namen „Dieter Bohlen“ schmuggelte. Bei der Anwesenheitskontrolle fand sich dann immer einer, der ein leises „Hier!“ in seinen Bart murmelte, wenn Dieter aufgerufen wurde. Und um das Ganze noch absurder zu machen, wurden fertige Bilder unter Dieters Namen abgegeben, was dazu führte, dass Dieter Bohlen eine Drei auf dem Zeugnis bekommen sollte. Kann jemand so verpeilt sein? I doubt it.

Manche Legenden haben das Zeug dazu, Wahrheit zu werden. So kursiert schon seit Jahrzehnten die Geschichte von einem Mic Drop der besonderen Art: Die Referendarin, die ihr Examen mit Bestnote besteht und danach zum Entsetzen der anwesenden Kolleg*innen und Prüfenden verkündet, sie werde nie wieder einen Fuß in eine Schule setzen. In your face, Bildungssystem!

Und dann kennt natürlich jede Schule die Geschichten von Techtelmechteln (ist das der korrekte Plural?!) von Beteiligten am Schulbetrieb in allen möglichen Konstellationen. Hier ist der Übergang zur Realität fließend und man weiß wohl sogar von Lehrer-Schüler-Beziehungen, die tatsächlich in eine Ehe mündeten.

Mir ist zumindest die Anekdote aus meinem Abiturjahrgang noch in Erinnerung, dass das ewige Jahrgangspärchen bei einer Gelegenheit im Musikraum mehr als nur Klavier gespielt haben soll. Und dass es ein Lehrer war, der das herausgefunden hat. Uiuiui!

Aber mal ehrlich: Ob wahr oder gelogen, ob schlecht erinnert oder stark übertrieben – diese Geschichten sind das Salz in der täglichen Suppe, die man dem Land Niedersachsen geschworen hat auszulöffeln, bis dass der Ruhestand uns scheidet. Sie sind der Fundus, aus dem schon in späteren Dienstjahren, erst recht aber mit Erreichen des Pensionsalters, oft und gerne erzählt wird.

Dazu braucht es aber auch die Kreativität zukünftiger Generationen für neue Legenden. Man muss nur die richtigen Fragen stellen: Was befindet sich hinter der verschlossenen Tür im Keller des Oberstufengebäudes? Was geschah mit dem Kollegen, der vor 25 Jahren ohne die leiseste Ankündigung von einem auf den anderen Tag aus dem Schuldienst ausschied? Gab es überhaupt so einen Kollegen oder müsste man ihn erfinden? Und: Woher hat Mr. HO eigentlich seine Insiderinformationen?