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"Sei nett zu Strebern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass du irgendwann für einen arbeiten wirst."

- Bill Gates

Unter den beliebtesten innerschulischen Beleidigungen belegt der Streber einen soliden dritten Platz (der zweite ist ein Platzhalter für das jeweils tagesaktuelle halbschlimme Jugendwort, z.B. „Lappen“ oder „Lauch“, während sich auf dem ersten Platz ein breites Potpourri von Begriffen drängelt, die darauf abzielen, die sexuelle Orientierung des Gegenübers infrage zu stellen). Grund genug, ihn einmal einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

Ein Streber ist nach ursprünglicher Bedeutung ein Schüler (selten eine Schülerin), der sich in egoistisch-penetranter Weise um möglichst makellose Beurteilungen in möglichst vielen Fächern bemüht und dabei einen Großteil der Unterrichtszeit und der Aufmerksamkeit der Lehrkraft in Anspruch nimmt. Von ihm zu unterscheiden ist unbedingt der Schleimer, der dasselbe Ziel über den Weg der Anbiederung beim Lehrkörper verfolgt, während der Streber eher durch seine maschinenartige, soziopathische Attitüde auffällt. Weil aber im 21. Jahrhundert ein erfolgreiches Vorankommen in Schule und Beruf ohne Soft Skills und Teamfähigkeit kaum noch denkbar ist, dürfte der klassische Streber eigentlich so gut wie ausgestorben sein. Wie kommt es also, dass man immer noch hört, wie das Wort durch Klassenzimmer gebrüllt oder dem Sitznachbarn halb ironisch zugezischt wird? Nun, dafür gibt es IMHO* zweierlei Erklärung:

Zum einen sind mit den ständig sinkenden Bildungsanforderungen auf allen Ebenen und in allen Fachbereichen** auch die Zugangsvoraussetzungen für die Titulierung als Streber gesunken: Bekamen es früher wirklich nur die Lernroboter mit den Stahlellenbogen zu hören, so reicht es heutzutage schon, eine gute Note in einem Test zu schreiben oder mehr als eine halbe Seite als Antwort auf eine Hausaufgabe zu verfassen und schon heißt es: „Streeeeber!“ (in einigen Milieus genügt gar die bloße Anfertigung einer Hausaufgabe für dieses Prädikat). Vielleicht ist es diesem Umstand zu verdanken, dass schulischem Erfolg – zumindest im deutschen Sprachraum – immer noch etwas Uncooles anhaftet, nach dem Motto: Wer herausragt, wird (verbal) abgesäbelt. Ja, die Bitterkeit sitzt tief, seufz.

Zum anderen hat sich mit der Zeit der amerikanische Nerd in die Semantik des Strebers eingeschlichen. Dieser jedoch fällt weniger durch seinen Karrierismus und die fehlende Empathie auf als vielmehr durch die fast autistische Hingabe und den Detailreichtum, mit dem er sich bestimmten (meist wissenschaftlichen) Themen widmet. Also sowas wie „ich schließe zwanzig alte Nadeldrucker zusammen und programmiere sie so, dass sie den Imperial March spielen“ (das ist nicht ausgedacht!). Und genau diesen Typus hat Mr. Gates im obenstehenden Zitat gemeint. Natürlich hat der Nerd eine ganze aus einschlägigen Filmen bekannte Klischeeschublade dabei, die mit ausgekippt wird und in der sich Stereotypen wie Brillenträger, Metalfans, Rollenspieler, Comicleser, Filmfreaks, Miniaturensammler und Hygienelegastheniker finden. So ist der gesamte Nerd-Streber-Komplex zu einem undefinierbaren Schwamm geworden, der plötzlich auf sehr viele Schüler*innen passt. Also sollte man es nicht zu ernst nehmen, wenn das S-Wort wieder einmal durch die Klasse weht. Dennoch: Als ehemaliger Streber (manche sagen, man wird es niemals los!) verspüre ich immer, wenn ich einer solchen Beleidigung gewahr werde, ein Vibrieren meiner Spidersensoren und möchte mir am liebsten die Alltagsklamotten vom Leib reißen, um als NERDMAN grausame Rache zu üben für diejenigen, die doch nur ihre verdammte Schulpflicht tun, um einen einigermaßen ordentlichen Abschluss zu bekommen und eine Chance auf ein erfolgreiches Leben zu haben!

* Abkürzung aus den Kindertagen des Internets, als plötzlich jeder jedem schreiben konnte, aber dann doch keine Lust auf sooo viele Wörter hatte. Mir gefällt sie immer noch. Bedeutung: „meiner bescheidenen Meinung nach“.

** Beleg bitte einfügen.

Bild Mr. HO 87kl

Doch dann fällt mir ein, dass oft diejenigen, die das Schimpfwort gebrauchen, einige Probleme mit dem Erfolg im Leben haben. Da sind weder Rache noch Häme angezeigt. Also knöpft NERDMAN sich das Hemd wieder zu und verschießt stattdessen eine Portion Selbstbewusstsein für alle, die es brauchen können. Und wenn er gut drauf ist, erzählt er vielleicht, wie es dazu kam, dass er zu dem wurde, der er ist – damals, in einer radioaktiv verseuchten Orientierungsstufenklasse Anfang der Neunziger… aber das ist eine andere Geschichte.

- gewidmet Peter Scholz (1971-2020), dem besten Nerd, den ich kennenlernen durfte -