Eine leider notwendige Vorbemerkung:
Der folgende Text stammt aus einer Zeit, da war das Coronavirus noch Quark im Schaufenster und des sinnierenden Lehrkörpers Gedanken hatten dementsprechend Raum für andere Merkwürdigkeiten. Mittlerweile würde wohl jede und jeder Schüler alles dafür geben, einen einigermaßen normalen Schulabschluss feiern zu können, ganz egal, wie abgeschmackt die Partyrituale sind. Insofern bitte ich, den nun folgenden gedanklichen Dünnpfiff magno cum grano salis zu lesen.
„Diese Dinge erscheinen an dem Tag, an dem du sie tust, notwendig; wenn du aber bedenkst, dass du sie täglich getan hast, sinnlos.“ Plinius der Jüngere, vor kurzem wieder gelesen im 13er-Kurs. Wovon der gute Plinius in der Kontemplation seiner Tätigkeiten spricht? Die täglichen Rituale – Verlobungsfeier, Hochzeit, Verleihung der Männertoga – für jeden der Teilnehmer mit immenser Bedeutung aufgeladen, für den immer wiederkehrenden Besucher nur noch sinnentleerte Pflichterfüllung. So ähnlich wie Plinius fühle ich mich manchmal, wenn ich an einem Donnerstagmorgen im Sommer zur Schule fahre, vorbei an quergestellten Fahrradständern und Baustellenabsperrbändern zwischen Bäumen, mir den Weg durch luftballongefüllte Lehrerzimmer bahnend und Klassenräume von mit Klebeband zusammengeschweißten Tisch-Stuhl-Skulpturen befreiend, während ein paar ganzkörperbemalte Abschlussklässler*innen mit Ghettoblaster, Leuchtweste und besagtem Absperrband als Stirnband den neuesten Mallorca-Hit grölen und dabei mit Eddings winken. Weitere beliebte Accessoires sind Sonnenbrillen und Burger-King-Kronen sowie natürlich das Abschluss-Shirt (oder der Abschluss-Hoodie).
Da befällt mich so eine unterschwellige Müdigkeit. Den Absolventen verheißt der „Chaostag“, wie er im Volksmund immer noch heißt, grenzenlose Möglichkeiten – der routinierte Pädagoge aber weiß: Gleich kommt die Polonäse, dann die Veranstaltung im Forum, bei der die jugendlichen Zeremonienmeister ins übersteuerte Mikrofon brüllen („Jetzt ma …le…nsetze…!“) und ihre Jahrgangslehrkräfte zu Helene Fischer auf der Bühne Karaoke singen lassen. Dann Aufräumen, ab nach Hause, ausschlafen. Chaos beendet. Bis im nächsten Jahr dann der nächste Jahrgang die Baustellenbänder spannt.
Meinem eigenen Jahrgang habe ich, wenn ich meine Worte richtig in Erinnerung habe, ins Stammbuch geschrieben, er möge sich für den Abschlusstag doch etwas Kreativeres ausdenken als Konfettikanonen und Bad-Taste-Mottotage. Zwecklos. Am Vorabend des Chaostages 2016 geistere ich durchs Schulgebäude, das vom Orga-Team unter pädagogischer Aufsicht präpariert wurde. Und? Baustellenband, Luftballons, Tesafilm. Immerhin fällt die „Lehrer-Challenge“ auf der Forumbühne etwas vielseitiger aus, ich sage nur: Impro-Theater, Flachwitzekontest mit Mund voller Wasser (Legendär Karl-Heinz Dupree: „Ich habe mein Wasser runtergeschluckt, könnte ich neues haben?“) und natürlich das Bobbycar-Rennen (meine Knie erinnern sich dunkel).
Vor einiger Zeit fällt mir dann im WPK-Unterricht im 10. Jahrgang ein Abstimmungsergebnis für die diesjährige Mottowoche in die Hände: Geschlechtertausch, Kindheitshelden, Horror, Casino Royale und natürlich Bad Taste – alle sind sie wieder dabei. Und auf einmal wird mir klar: Es geht überhaupt nicht um Originalität, Unverwechselbarkeit, Einzigartigkeit. Vielmehr möchte jede und jeder Absolvent genauso Abschluss feiern wie schon Generationen vor ihm – gleiche Mottos, gleiche Aktionen, gleicher Ablauf. Das hat nichts mit Kreativität zu tun – das ist eine Tradition, die gepflegt werden will! Und da erreicht der Konservativitätspegel beim Feiervolk Ausmaße, die selbst einem CDU-Parteitag gut zu Gesicht stünden. Dafür sorgt nicht zuletzt die Polonäse durch die ganze Schule, von den unteren Jahrgängen mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Abscheu und Neid beäugt: „Das machen wir auch, wenn wir dran sind!“
Erschwerend hinzu kommt ja noch, dass Kreativität über vielen zukünftigen Ex-Schüler*innen hängt wie die Trauben über dem Fuchs, weswegen einige Freund Google fragen (eigentlich ein Widerspruch in sich) und dann folgendes (sic!) zur Antwort bekommen: „Ihr könntet zB in die Klassen stürmen und schreien "Abiii" oder "Mittlere Reife" oder "Quaaaliiii" und dann schauen dass alle Schüler in die Aula kommen und dann etwas witziges mit den Lehrern machen“**
Okay, wem das zu crazy ist, der kann sich auch an die Polonäse hängen.
* siehe auch Episode 65: „Auf Konformationsfahrt nach Individien“
** Quelle: https://www.gutefrage.net/frage/kennt-jemand-gute-kreative-ideen-fuer-einen-abschlussstreich
