Es gibt ein Mysterium, das Schüler*innen jeden Alters gleichermaßen mit Abscheu und Faszination beäugen. Seinen Namen zu äußern ist gefährlich, also behilft man sich mit Bezeichnungen wie „die verbotene Zone“, „der Tartarus“ oder „Ihr-wisst-schon-wo“. Denn dort residiert: der Feind. Eine Lehrkraft ist noch mit der Masse der Klasse in den Griff zu kriegen, aber dort trifft man nicht selten ein ganzes Dutzend von ihnen an! Es darf also als krasse Mutprobe gelten, wenn der Klassensprecher, am besten noch mit Unterstützung der Vize-Klassensprecherin, des ersten Offiziers und des Klassenclowns ehrenhalber mit zitternden Fingerknöcheln Einlass begehrt – sei es, weil der Kreidevorrat alle ist, sei es, weil nach zwanzig Minuten Nichterscheinens der Lehrkraft mal jemand mit Autorität oder zumindest einer lauten Stimme kommen muss. Bange Sekunden vergehen, in denen sich die Kinderlein aufmunternd zunicken und ohne Worte verständigen: „Wenn sie ein Opfer fordern, geben wir ihnen Fabian!“
Dann aber öffnet sich knarzend das Tor, fremdartige Gerüche nach verbrannten Bohnen, alten Möbeln und Leberwurstbrot schlagen ihnen entgegen, und – am schlimmsten von allen – ein griesgrämig dreinblickender Troll mit halbgefülltem Becher starrt sie feindselig durch den schmalen Türspalt an, dahinter die erkaltende Sitzmulde seines Sessels, den er für sie verlassen musste! Im Hintergrund feixen andere Ungeheuer, die nur kurz ihre Lästereien unterbrechen, um des Flücheschwalls teilhaftig zu werden, der nun gleich über die armen Kinder hereinbrechen wird.
Okay, soweit die Sicht der Schüler*innen. Da müssen vielleicht ein paar Mythen geradegerückt werden.
Punkt eins: Lehrerzimmer sind kein Ort, wo man als Schüler*in gerne hingeht. Da ist schon etwas dran. Der Respekt sitzt tief – selbst bei vollständig geöffneter Tür versperrt offenbar eine feinstoffliche Barriere den Zutritt, kein Fuß wagt sich über die Schwelle, der Türrahmen scheint zu brüllen: „Du kannst nicht vorbei!!!“. Und allein der Anblick mehrerer am Tisch sitzender Lehrkräfte zaubert bei einigen ein fasziniertes Halblächeln aufs Gesicht, als würden da gerade die Avengers höchstselbst sitzen und in die Stulle beißen. Ja, ich denke, das habe ich ziemlich sicher richtig eingeschätzt.
Punkt zwei: Der Geruch. Da hat sich schon einiges getan, Stichwort Raucherlehrerzimmer. Wer Kaffeeduft nicht als belebend empfindet, ist hier grundlegend falsch. Und das sich vor hin rottende Mobiliar nimmt der Dauergast ohnehin nicht mehr wahr. Für ihn strahlt es nur reine Gemütlichkeit aus.
Punkt drei: Wer stört meine Pause? Erlebt man nur noch sehr vereinzelt – die meiste Zeit über blickt man als Bittsteller*in in die freundlichen Gesichter zugewandter Menschen, die das eigene Problem gern zu dem ihren machen. Dafür muss aber der Strom der Kundschaft manchmal kanalisiert werden. So geschehen bei einem nicht mehr existenten Lehrerzimmer mit zwei (!) Türen, von denen eine den unmissverständlichen Hinweiszettel trug: „Hier macht nie jemand auf!“
Punkt vier: Lästern. Okay, schuldig im Sinne der Anklage. Wobei: Im Grunde sind das Dienstgespräche zu pädagogischen Zwecken, sooo nämlich! Und oftmals dienen sie auch der Seelenhygiene und der gegenseitigen Bestärkung: Nein, Karlheinz, es liegt nicht an dir! Sehr hübsch anzuhören sind übrigens Lehrkräfte, die über andere Lehrkräfte lästern und es dabei vermeiden, explizit Namen zu nennen (als würde das irgendetwas verbessern!). Stattdessen werden Umschreibungen gewählt, was zu fantastischen Dialogen führt: „Und dann meinte die erste Person so…“ – „Du meinst, die von dem Kollegiumsausflug…?“ – „Nein, die andere, also die meinte über die zweite so, das wäre ihr zu albern!“ – „Der zweiten jetzt…?“ – „Nee, der ersten!“ – „Ja, typisch…“
Ist der Mythos damit entzaubert? Weit gefehlt – der Regisseur Ilker Catak hat den Stoff sogar verfilmt und geht damit als deutscher Beitrag für den besten internationalen Film bei den Oscarverleihungen 2024 an den Start! Im Prinzip sollte das Lehrerzimmer also schleunigst Weltkulturerbe werden: Es liegt sehr oft Essbares für die Allgemeinheit herum (bei einer Packung dubioser Weihnachtsplätzchen fragt man nicht, da wird einfach zugelangt!), es findet sich immer eine gleich- oder ähnlichgesinnte Person für das tägliche „soschel-imoschel“ und man kann mal für zwanzig Minuten die Tür hinter sich zu machen. Herrlich!