Die alte Welt liegt im Sterben,
die neue ist noch nicht geboren.
Es ist die Zeit der Monster.
- Antonio Gramsci
So, meine Damen und Herren…!
Der Blick auf den Kalender verrät es, die Spatzen pfeifen es von den runderneuerten NWS-Dächern: Mr. HOs Kolumne wird 10 Jahre alt! Oder, um es in der Sprache der Generation Netflix zu sagen: Das hier ist der Pilot der zehnten Staffel. Meistens eine gute Gelegenheit, um auf sämtliche losen Enden in der Storyline einen Knoten zu machen und das Ding zu einem halbwegs würdevollen Ende zu bringen, das nicht durchschimmern lässt, welche Anstrengungen die Autorencrew unternehmen musste, damit nicht alles komplett hanebüchen wirkt. Aber keine Angst, Mr. HO denkt noch nicht ans Aufhören. Der Vorrat an täglichen Absurditäten und Denkwürdigkeiten scheint zumindest im Moment noch unerschöpflich.
Weniger absurd als denkwürdig ist dabei der Neuanfang, den wir als Beteiligte am Schulsystem jedes Jahr wieder erleben dürfen. Welche andere Berufsgruppe kann das schon von sich behaupten? Normalerweise sieht das Büro nach dem Sommerurlaub noch genau aus wie vorher (vielleicht mit ein bisschen mehr Papier auf dem Schreibtisch), gegenüber sitzt dieselbe Nase und nach spätestens zwei Wochen fragt man sich: „War ich eigentlich weg?“.
Ganz anders wir Lehrkräfte: Jedes Jahr ein Schwung neuer Kolleg*innen und meistens auch zu Beschulender. Und selbst wenn die Lerngruppen auf dem Papier dieselben sind wie vor den Ferien – es fühlt sich trotzdem neu an. Der Geruch von Weisheit und Reife liegt in der Luft. Und manchmal – so wie in diesem Jahr – auch der Geruch von neuer Wandfarbe und neuem Teppichboden! Der Wahnsinn! Die Teppichabteilung, wie die Oberstufe schulintern liebevoll genannt wird, darf ihren Spitznamen behalten! Aber noch etwas ist neu – ein Entwicklungsschritt, den man in seiner ganzen Bedeutungsschwere kaum auf Anhieb erfassen kann: Wir schreiben das Ende des Kreidezeitalters! Und zwar mit einem Plastikstift auf eine digitale Bildschirmoberfläche! Die alten Tafeln, dunkelgrüne Monolithen der Beständigkeit, haben endgültig ausgedient. Keine kreidestaubigen Hände mehr, keine unwischbar eingeprägten Fresken vom Vorgänger, keine vollgekritzelten Quadratmeter! Alles ist schön sauber und kann mit einem einzigen Tastendruck gelöscht werden.* Und doch hört man aus der Ferne das Geheul der letzten Dinosaurier: Ich will meine Tafel behalteeeen! Und was mache ich, wenn dieses Digital-Dings nicht funktioniert, hä?! Was dann?! Roooaaaarrrr!
Sicher: das alte Modell hat eine andere Haptik – und haben sich nicht auch Bücher und Plattenspieler gehalten, obwohl sie vielfach totgesagt wurden? Außerdem bestach das grüne Monster durch seine schiere Größe, wenn es erst einmal seine Flügel aufgespannt hatte. So viel Information auf einen Blick bietet der elektronische Kollege nicht. Dazu die digitalen Kinderkrankheiten und Unzulänglichkeiten: Tablet und Tafel können nicht drahtlos zueinander finden und für die direkte Verbindung fehlen Kabel und/oder Adapter, der interne Rechner steht noch nicht zur Verfügung, der Stift schreibt mal weiß, mal rot, und das Hochfahren der Tafel dauerte früher zwei Sekunden, jetzt fast eine halbe Minute!** Dennoch: Ich denke, es gibt nur einen Weg, und der führt nach vorn!
Für die Trauernden indes steht eine letzte mobile Kreidetafel als Reliquie im Zentrum des Oberstufengebäudes, die per Anschrieb darum bittet, nicht entsorgt zu werden. Sie wird schon sehr bald Museumscharakter haben: Schauen Sie hier, so wurden bis vor Kurzem noch Abiturienten unterrichtet! Ja, geradezu barbarisch, aber man hatte damals nichts anderes…
Ganz egal also, welche Unwägbarkeiten das elektronische Nachfolgermodell noch für uns bereithalten wird – wir können später von uns behaupten, den Moment live miterlebt zu haben, als der Meteorit einschlug, der das Ende der Kreidezeit besiegelte. Und das allein hat für sich schon Erinnerungswert.
* Jetzt nochmal schnell Episode 92 („Tafelbild, verweile doch!“) lesen, bevor die Erinnerung verblasst!
** Und da soll nochmal jemand sagen, der Kalauer sei tot!