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Taschenrechner unser im Etui,

geheiligt werde dein Display,

dein Ergebnis komme, deine Meldung geschehe,

wie im Unterricht, so in der Klausur.

Unsere täglichen Lösungen gib uns heute

und vergib uns unsere Eingabefehler

wie auch wir vergeben unserer Planlosigkeit.

Und stürze uns nicht in Verwirrung,

sondern erlöse uns von dem Unwissen.

Denn dein ist das Gleich

und das Plus und das Minus in Ewigkeit.

Enter.

Kybernetik beginnt bereits dort, wo der Mensch ein Werkzeug als Erweiterung seines Körpers benutzt, das damit zu einem integralen Bestandteil seiner Selbst wird. Wo könnte man diese Tatsache besser beobachten als beim Verhältnis des Schülers zu seinem Taschenrechner?

Geradezu herbeigesehnt wird der Moment im 7. Schuljahr, in dem man das Gerät in Empfang und Betrieb nimmt, denn damit wird feierlich der Abschied von der leidigen Kopfrechnerei zelebriert (oder, kybernetisch gesprochen, die Verlagerung des Rechenzentrums vom Großhirn in die digitale Handerweiterung). Man braucht sie danach ja nie wieder (hust, hust!).

Von nun an ist der Rechenknecht ständiger Begleiter und psychologischer Berater in fast allen Lebenslagen: Immer wenn eine Lehrkraft eine Frage in den Raum stellt, in der Zahlen vorkommen, schließt sich die Schülerhand reflexartig um das namensgravierte Kunststoffgehäuse, nur um sich kurz der wohligen Schwere des Apparats zu versichern und den nervösen Herzschlag zu beruhigen. Dann tippen die Finger eilig und kombinieren die gehörten Werte schnell mit irgendwelchen Rechenoperationen, Hauptsache, das Ergebnis steht, auch wenn die Benutzung des Rechners vielleicht gar nicht angezeigt ist, etwa dann, wenn eine Schätzfrage gestellt wird.* „Mach dir keine Sorgen, ich bin ja da!“, so scheint das Gerät zu säuseln.

Natürlich werden nun auch alle Aufgaben, die eigentlich mit den oben erwähnten Kopfrechenfähigkeiten zu lösen sind – sagen wir, Addition im Zahlbereich bis 20 mit Zehnerübergang – dem digitalen Assistenten übertragen. Plötzlich vertraut nämlich niemand mehr dem, was er in besagter 7. Klasse freudig über Bord geworfen hat – vielleicht ist 24 mittlerweile ein zu grober Schätzwert für die Aufgabe 9 + 15 und sollte vom elektronischen Experten besser bestätigt werden, denn er wird es ja wissen: „Ja, du hast Recht, sei ganz unbesorgt, 1 x 1 ist immer noch 1, das Universum spielt dir keinen Streich!“

Fast körperlich werden die Schmerzen, wenn man versucht, Lernende und Gerät zu trennen, etwa, weil sich böswillige, realitätsfremde Kultusministranten erdreisten, Aufgaben zu ersinnen, die ohne die Benutzung von Hilfsmitteln zu bearbeiten sind, gar noch in Prüfungsformaten! Wie groß ist dann das Wehklagen der Schülerschaft, fast so, als hätte man ihnen ein lebenswichtiges Körperteil amputiert. Hier könnte vielleicht durch das Verteilen optisch ähnlicher Holzattrappen psychologisch Abhilfe geschaffen werden – vielfach genügt ja bereits der Blick auf den Kalkulator, um für Beruhigung zu sorgen.

 

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Stellenweise nimmt die fast kultische Verehrung des Rechenapparats absurde Züge an, wenn nämlich die Fachkompetenz der Lehrkraft der vermeintlichen Allwissenheit des digitalen Abakus‘ untergeordnet wird. Davon zeugen mündliche („Bei mir steht Error, das geht gar nicht!“) und schriftliche Beiträge („Ich hab es eingegeben und es stimmt wirklich!“). Warum aber erfährt der Apparillo solche Zuneigung, die auch beim erweiterten Modell der Oberstufe nicht durch schwierige Eingabesyntax und komplexe Menüführung getrübt wird? Zwei Antworten: Erstens füllt der TI die im Unterricht bleibende Leerstelle im kybernetischen Gesamtbild, die sonst das Smartphone einnimmt. Isso. Zweitens kann sich auch der oder die aufgeklärteste Lernende des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mathelehrkraft, die da vorne gerade händeringend versucht, ihre Inhalte unters Lernvolk zu bringen, irgendwie voreingenommen und von persönlichen  Meinungen gesteuert ist – der treue Taschenrechner aber ist gefühllos und daher neutral, also misst man seinen Ergebnissen einen höheren Wert bei. Zumindest sollte jede und jeder, der sich neben so einem Gerät auf die pädagogische Bühne stellt, damit rechnen. Mit den Vorurteilen. Und mit dem Gerät.

* Fairerweise sollte man hier Schätzaufgaben a la Enrico Fermi erwähnen, zu deren Lösung ein Taschenrechner durchaus empfehlenswert ist (Klassiker: Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago?).