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Voller Elan betritt die Lehrkraft den Raum. Nächtelang hat sie den Eingangsimpuls entworfen, geschärft, verworfen, neugestaltet. Der kognitive Konflikt, der durch die zentrale Frage ausgelöst werden soll, nein WIRD, steht strahlend vor dem inneren Auge. Und dann wird man jäh und rigide ausgebremst. Denn der Vorgänger hat die Tafel nicht gewischt und auch keinen blöden Speichellecker verdonnert, ihm dies abzunehmen. Entsetztes Japsen oder unterdrücktes Grollen, aber Schwamm drüber - nachdem man etwa zehn Liter signalgelbe Soße ausgewaschen hat, damit die wertvolle Botschaft nicht durch einen schlierigen Schleier, sondern in klarem Kontrast zum Dunkelgrün erscheint. Beim Wischen versucht man zu eruieren, welche/r Schurk*in den didaktisch-methodischen Überschwang derart ins Stocken gebracht hat. Erstes Indiz: Das Fach! "Der Auferstehungsglaube in den Weltreligionen" Das grenzt den Kreis schon mal ein. Vielleicht ist es mal wieder Zeit für die hochnotpeinliche Befragung am Lehrerzimmertisch.

Wer sich indes nicht zum Putzdienst herablässt, greift einfach zur Komplementärfarbe im Kreidefach und schreibt demonstrativ und provokant über die Ergüsse seines Vorgängers. Nicht einen Essay, der davon handelt. Sondern buchstäblich drüber! Das hat natürlich nichts mit effizienter Nutzung der Medienfläche zu tun, sondern soll der stirnrunzelnden Schülerschaft mit dem Holzhammer signalisieren: "Erbarmt sich jetzt bald mal jemand und wischt die Tafel oder muss ich anfangen, mit Kreidestückchen zu werfen?!"

Der Arbeitsaufwand nimmt natürlich unterschiedliche Ausmaße an. Mal sind es nur drei Schlagworte – Globalisierung, Inflation, Dienstleistungssektor – anhand derer sich die vergangene Stunde einigermaßen rekonstruieren lässt und die einsam auf grüner Flur ihr Dasein fristen. Manchmal kann man sich aber auch direkt das Fitnessstudio sparen, etwa bei der besonders raumgreifenden Art, die einige Mathematik-Kolleg*innen beweisen. Das volle Triptychon ist genutzt, Axiomatik schlägt sich in Akkuratesse nieder, das können Geisteswissenschaftler nur bewundern. Bei meinen Tabellen geraten die Hilfslinien zu Kurven wie Skispuren im Tiefschnee, ich muss an einen Spruch meines damaligen Physiklehrers denken: „Je schneller ich zwei Parallelen an der Tafel zeichne, desto eher schneiden sie sich im Unendlichen“. Ganz anders der Mathe-Kollege: Rechts unten, wo bei meinen Tafelbildern wegen schlechter Planung die Schrift immer kleiner und unleserlicher wird, steht bei meinem Vorgänger nur ein ausdrucksstarkes "q.e.d.". Wie plant man eine Beweisführung derart voraus, dass genau nach vier Quadratmetern die entscheidende Umformung geschieht?

Manchmal aber kommt es vor, dass die leicht verspätet angeschnauft kommende Folgelehrkraft beim Öffnen der Flügel ein heiliger Schauer überkommt ob des Anblicks, der sich dann bietet: Da trifft glasklar lesbare und liebevoll leicht geschnörkelte Cursiva (selbst in der untersten Zeile, wo die Anatomie des Lehrkörpers der Schriftführung sehr enge Grenzen setzt) auf eine ebenso handwerklich perfekte wie sinnvolle Illustration. Linien scheinen freihändig und doch linealgeführt streng geradeaus zu weisen, die Farbpalette von Rober Color (es gibt auch noch andere gute Schulkreiden!) wird voll ausgeschöpft, kurzum: Wir haben es mit nicht weniger als einem Kunstwerk zu tun, das eigentlich eine Klarlackfixierung und den Abtransport ins MoMA verdient hätte. Noch zwei Sekunden hält man andachtsvoll inne, preist in Gedanken den- oder diejenige, die dieses Artificium geschaffen hat, dann kommt gnadenlos der Schwamm zum Einsatz. Wieso muss Kunst für die Ewigkeit geschaffen sein? In den wenigen Augenblicken, in denen ich ihrer teilhaftig werde, offenbart sich mir mehr als beim halbstündigen Starren auf die Seerosen. Sorry, Monet!

Natürlich geschieht dies nur noch in den Enklaven des Kreidezeitalters. Da reichen die Smartboards nicht heran – sicherlich, es gibt Systemabstürze, die manch schöne Präsentation verhindern, aber es ist einfach nicht dasselbe. Spätestens dann erinnert man sich nostalgisch an die fächerübergreifende Verfluchung säumiger Vorgänger, über die man so schön ablästern konnte.

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