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2017. Ein Schüler der Sekundarstufe II, der seine Genialität wegen seiner Zerstreutheit leider selten in schulische Strukturen zu bringen vermag, spricht mich nach dem Unterricht an: „Sagen Sie, sind Youtube-Videos eigentlich als Quellen für eine Facharbeit zulässig?“

2022. Ein Schüler der Sekundarstufe I, dessen Genialität … jeder Beschreibung spottet, spricht mich in der Übungsstunde an: „Ich soll eine Ausarbeitung als Zusatzleistung zu diesem Thema anfertigen, damit ich eine Eins bekomme, aber…ich finde einfach kein gutes Video dazu!“

Meine Damen und Herren, ich bin da einer ganz großen Sache auf der Spur. Dank meines stets auf den Eisenbahnschienen des Fortschritts liegenden Ohres habe ich die Erschütterungen schon Jahre im Voraus gespürt. Die beiden Herren oben sind nur Vorboten, die vom altgedienten Schulpersonal wegen ihrer Naivität belächelt werden mögen, doch ich prophezeie, es werden Zeiten kommen, da werden derartige Anfragen einer völlig seriösen Antwort gewürdigt.
Denn das Zeitalter des geschriebenen Wortes neigt sich dem Ende zu.

Was haben wir uns gefreut, als das WWW in den Schulunterricht Einzug hielt. Onlinesuchmaschine statt Bücherwälzen – ein völlig neues Recherchegefühl. Mehr und mehr liebevoll gestaltete Websites, auf denen sich pensionierte Historiker, Altphilologen oder Geographen ausgetobt hatten. Dazu farbige (!) Grafiken, die sogar aktuell waren. Eine wahre Goldgräberstimmung.

Doch dann erste Unsicherheiten: Kann man Wikipedia als ernstzunehmende Quelle zitieren? Im Zweifelsfall lieber nicht. Gedanken über geistiges Eigentum und „Wer hat’s zuerst gesagt?“, ziemlich anstrengend, was zur Folge hatte, dass Köpfe heißliefen und sich das Copy-and-paste-Fieber ausbreitete (auch wenn dadurch das Copy-and-waste-Fieber aus papiernen Zeiten weitgehend eingedämmt wurde) und zum ersten Mal schlich sich das Syndrom der geistigen Faulheit in die Köpfe: Soll ich das wirklich alles lesen? Sieht doch gut aus auf den ersten Blick, das übernehmen wir mal! Analoge Buchtexte haben mich dazu gezwungen, zu komprimieren und zusammenzufassen, denn ich wollte ja Papier, Tinte, Zeit und Nerven sparen (eine andere, gesunde Art von Faulheit) – jetzt habe ich die Freiheit, mit einem Mausklick einfach alles mitzunehmen, geht ja schnell.

Wie sich zeigt, war das aber nur die erste Stufe. Die zweite steht kurz bevor.

Noch ein paar Jahre später sind wir mitten im Web 2.0 angekommen, wo viel getippt und gelesen wird, was Deutschlehrkräfte grundsätzlich frohlocken ließe, würde der deutschen Rechtschreibung nicht so viel Gewalt angetan. Doch der Charakter der Texte ist ein anderer als das so wichtige Exzerpieren und Komprimieren.* Und dann der Video-Boom: Facebook, Insta, Youtube: Was als internationales Sammelsurium halbspaßiger Fünfminüter begann, mauserte sich bald zu einer echten Fundgrube für Informationen, nicht nur in Form der guten alten Terra-X-Doku, sondern eben auch wieder in den medienaffinen Dampfplauderern in Altersteilzeit, denen es nichts ausmachte, mal eben die Geometrie von Adam und Eva an oder die französische Grammatik in kleinschrittigen „Tutorials“ unters Follower-Volk zu bringen. Der Medienauftritt wurde immer professioneller und bald konnten selbst Hobby-Politologen in ihrer heimischen, selbst zusammengezimmerten News-Butze mit den Anchormen und -women aus dem Fernsehen mithalten (okay, sagen wir, aus dem Privatfernsehen). Dass da zwischen viel Kies auch so manche Perle schlummert, unbestritten (Das Anschauen des Kanals 3Blue1Brown beispielsweise ist eine geradezu meditative Erfahrung). Aber es verändert die Art, wie Informationen aufgenommen und bewertet werden (sprach der feine Herr Soziologe). Was dann zu einer weiteren Begegnung führt, die mir eine Kollegin berichtete: Eine Schülerin diesmal, die sich aus einer Rechercheaufgabe, die langwierig zu werden drohte, mit den Worten herauszuwinden versuchte: „Kann ich nicht einfach zu dem Thema alles aufschreiben, was ich selbst so weiß?“

Kulturpessimismus hin oder her: Merket auf meine Worte – Das Wort hat ausgedient und macht dem Bild Platz. Wer weiß schon, wie lange diese Kolumne noch als Text erscheint? Jetzt noch schnell alle Folgen lesen!

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