Seit Mitte Februar habe ich ein neues Lieblingswort. Ich bin immer wieder überrascht, was die gute alte deutsche Sprache auch nach mehreren Jahrhunderten Entwicklung noch so hervorbringt. Das Wort passt auch gerade gut in
I have a constant fear
that something’s always near.
- Iron Maiden, Fear of the Dark
Seit Mitte Februar habe ich ein neues Lieblingswort. Ich bin immer wieder überrascht, was die gute alte deutsche Sprache auch nach mehreren Jahrhunderten Entwicklung noch so hervorbringt. Das Wort passt auch gerade gut in die Zeit, hat sich aber in der politischen Bubble wohl noch nicht herumgesprochen, sonst hätten wir es im zurückliegenden Bundestagswahlkampf bestimmt schon zu oft gehört. Ich glaube, das müsste man einfach mal irgendwo pitchen, es würde sicher viral gehen.
Das Wort lautet „grenzstabil“. Mir läuft es schon beim Tippen heiß und kalt den Rücken herunter. Grenzstabil, ein Wort wie eine kalte Stahlwand mit Stacheldraht oben drauf, ein Wort wie eine drei Meter dicke Mauer mit Selbstschussanlagen und einem Todesstreifen, wo… okay, da bin ich zu weit abgebogen.
Das Wort stammt, wen wundert’s, nicht aus der Pädagogik, sondern aus der kalten, technokratischen Welt der Mathematik, wo es um sich nicht verändernde Zustände geht. Na gut, damit ist es auch für den Schulgebrauch legitimiert.
Der Benutzer dieses Wortes hat es jedoch leichtfertig in den sozialen Bereich importiert, wofür es meiner Meinung nach mindestens drei Anzuggrößen zu groß ist. Er möchte darunter die Fähigkeit einer pädagogisch tätigen Person, die ihr Anvertrauten in die Schranken zu weisen, verstanden wissen. Ihr wisst schon: „Du lässt ihn in Ruhe!“, „Immer nur zwei pro Toilette!“ und natürlich „DU KANNST NICHT VORBEI!!!“
Grenzstabil ist seiner Definition nach derjenige, der sich gegen Respektlosigkeiten, Drohgebärden und anderes Ungemach von Schülerseite stemmt und keinen Meter Boden preisgibt. Da hat er sicher einen Punkt, dennoch wird das Wort bald wieder aus meiner Hitliste herausfliegen – zu groß ist die Assoziation mit dem sehr ähnlich klingenden Wort grenzdebil.
Aber das Wort hat mich zum Nachdenken über Grenzen zwischen Lehrkräften und Schülern gebracht.
Denn dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis ist schon ein schwieriges Ding und ich habe schon so viele Möglichkeiten wahrgenommen, wie es interpretiert werden kann (von beiden Seiten): Die Skala reicht vom Elternersatz für die armen Seelen, die sonst niemanden haben, den sie mit Selbstgemaltem und Knuddeleinheiten beglücken können, über das Buddy-Verhältnis, dem eigentlich nur das „Digga!“ zur vollwertigen Bromance fehlt, sowie den Trainer-Approach, bei dem es vor allem um die leistungsmäßige Entwicklung der Fähigkeiten geht, bis zum distanzierten Beobachter, der sich hinter Legionen von Einzelbewertungen versteckt und die meisten Namen auch nach einem Dreivierteljahr leider noch nicht drauf hat. Ein Lehrer ist natürlich weder Papa noch Kumpel noch Trainer noch Sachverständiger, sondern irgendwas dazwischen. Und was dazwischen ich bin, muss ich bei jeder neuen Gruppe wieder ausloten. Und das fängt schon beim Ortskontrollgang während der ersten Erarbeitungsphase an: Einige würden aus der Entfernung nie eine Frage stellen, haben aber, wenn ich herumkomme, immer zwei bis drei parat. Andere haben schon ein Problem damit, wenn jemand hinter ihnen entlanggeht.
Zuhören, das glaube ich erkannt zu haben, scheint ein brauchbares Mittel zur Überwindung von Distanz zu sein. Zuerst bei fachlichen Fragen, dann auch bei solchen, wo es um Hobbys, aktuelle Politik oder das Champions-League-Viertelfinale geht. Gemeinsam frühstücken ist super. Und natürlich gemeinsam spielen, womit ich „echte“ Spiele meine und nicht nur Galgenmännchen oder Eckenraten. Wenn ich dann mein Team beim Tabu-Spielen oder bei einarmiger Pantomime mit verbundenen Augen nach vorne zu bringen versuche, bin ich natürlich nicht grenzstabil, ganz klar. Aber jeder Grenzzaun braucht auch ein paar Türen zum Durchgehen, damit man im Gespräch bleibt. Und der vielzitierte und oft eingeforderte Respekt kann nicht nur auf Einschüchterung und So-lange-in-die-Augen-sehen-bis-einer-wegguckt beruhen.
Ein im Kollegium als „schwierig“ geltender Schüler kam neulich während meiner Pausenaufsicht und fragte mich nach einer Lehrerin von der Realschule. Ob sie gekannt hätte. Sie sei vor dem Schulwechsel seine Klassenlehrerin gewesen und vor kurzem völlig überraschend gestorben. Und er, der sonst durch markige Sprüche aufgefallen war, war betroffen.
Zum Glück war die Tür im Grenzzaun nur angelehnt.