Möchtest du allwissend oder glücklich sein?

Ein philosophischer Essay von Merle Kim Gerdes

Heinrich v. Kleist schrieb im Juli 1801 an Adolphine von Werdeck: „…das Wissen macht uns weder besser, noch glücklicher.“ Um ehrlich zu sein, im ersten Augenblick schien diese Aussage für mich völlig sinnlos und trifft bei mir auf wenig Zustimmung. Doch denken Sie einmal darüber nach… Befanden Sie sich nicht auch schon einmal in einer Situation, in der Sie am liebsten die Zeit zurück drehen und eine Wahrheit verdeckt lassen wollten? Ist nicht manchmal der Augenblick am schönsten, in dem wir noch unwissend waren? Glauben Sie mir, Wissen kann Macht verleihen, allerdings kann es uns auch das Glück und unsere glücklichen Momente vorenthalten und nehmen. In der folgenden Erläuterung werde ich mich mit diesem Thema auseinandersetzten und die Aussage von Kleist akzentuieren.

Es ist die Menschlichkeit und die Neugierde, die uns antreibt, neue Dinge und Perspektiven zu entdecken. Wir wollen uns weiterentwickeln, zahlreiche Informationen erhalten und lernen. Das Streben nach Wissen und Antworten auf alle Fragen der Welt ist allerdings manchmal eine leichtsinnig getroffene Entscheidung. Denn wer kann uns schon sagen, was die Wirklichkeit ist? Niemand auf dieser Welt kann mit einhundertprozentiger Sicherheit sagen, was in unserem Leben wahr und was falsch ist, was gut und was böse ist. Und je öfter wir auf diese Gegensätze und Vergleiche treffen, desto mehr neue Fragen kommen auf. Fragen, die uns niemand beantworten kann und nach deren Antworten wir oftmals vergeblich suchen. Jedem von uns ist die Entscheidung selbst überlassen, ob wir nach allen Antworten suchen oder ob wir aufgeben. Aufgeben, zu suchen und möglicherweise nie die Antwort finden, die wir erhofft hatten. Oder aufgeben uns Fragen zu stellen und alles so zu akzeptieren wie es passiert. Beide Möglichkeiten, Aufgeben und weiterkämpfen, werden uns nicht glücklich machen oder befriedigen. Denn wenn wir kämpfen und nach Antworten suchen, wer kann uns garantieren, dass wir die „richtigen“ Antworten finden? Und wer kann uns versichern, dass wir die Antwort überhaupt ertragen? Und wenn du aufgibst, und das Suchen nach Antworten beendest, wirst du dann auch ohne sie glücklich? Ich bin mir sicher, die Antworten aufzudecken macht uns oft genauso unglücklich, als, wenn wir aufgeben und keine Antwort suchen.

Beginnen wir damit unser Wissen mit unserem Alltag zu verknüpfen, so kann sich die Wahrnehmung des Lebens auf viele Arten verändern. Die Gedanken, Gefühle und Wahrheiten, die wir vertreten, können nur durch  Wissen stark verändert werden. Wie Kleist in seinem Brief schrieb: „Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anderes sah, als seine krumme Linie, u. daß ihm an ihrem Herzen nichts merkwürdig war, als sein Cubikinhalt. Bei den Küssen eines Weibes denkt ein ächter Chemiker nichts, als daß ihr Athem Stickgas u. Kohlenstoffgaß ist“, so erkennt man, dass Wissen die Freude eines Menschen nehmen kann und die schönsten und natürlichsten Dinge im Leben nehmen und unnatürlich werden lassen. Augenblicke des Glücks können von Grund auf analysiert und „kaputtgedacht“ werden und so ihre glücklichen und freien Momente verlieren. Man sagt, dass unwissende Menschen glücklicher sind, als die, die über ihre Gefühle nachdenken, und in manchen Situationen denke ich, dass diese Vermutungen allen Grund zur Annahme haben. Doch wenn wir uns nicht über unsere Gefühle im Klaren sind und sie nicht durchdacht haben, wie können wir uns dann sicher sein, dass sie uns wichtig sind oder ob sie wirklich echt sind. Denn Gefühle, wie Liebe, Trauer oder Freude, können nur interpretiert oder überwunden werden, wenn wir uns wirklich mit ihnen auseinander gesetzt haben.

 

Beginnen wir nicht ebenfalls an manchen Ereignissen zu zweifeln, wenn sich uns eine neue Theorie eröffnet hat. Erfährt man, dass Wissen und Unwissenheit dazu verwendet werden können Wahrheiten vorzuenthalten, kann nun die gesamte Lebens- und Weltansicht verändert werden. Dieses Phänomen wurde schon ungefähr im Jahre 370 v. Chr. vom griechischen Philosophen Platon entdeckt und als sogenanntes Höhlengleichnis bekannt gemacht. Platon erklärt das Höhlengleichnis so: Mehrere Menschen leben in einer Höhle, gefesselt, mit dem Blick auf eine Felswand, während hinter ihnen ein Feuer leuchtet. Auf der Felswand sind nur Schatten von Gegenständen zu sehen, die hinter ihnen über eine Mauer getragen werden. Die gefesselten Menschen halten einzig diese Schattenbilder auf der Felswand für die Wirklichkeit. Nun aber wird einer der Gefangen von seinen Ketten befreit und umgewendet. Nach einiger Zeit erkennt er die Realität für die Wahrheit an, möchte aber zurück ins bequeme Dunkel, aufgrund des Blendens des Tageslichts. Zu vergleichen ist diese Erzählung mit einer Gesellschaft und deren Manipulation. Die Menschen in der Höhle werden gezielt in ihrer Unwissenheit gelassen und so empfinden sie das als ihre Wirklichkeit, was ihnen nicht vorenthalten wurde. Diese Bruchstücke des Wissens können sich nun allerdings als falsche Wahrheit entpuppen, wenn der abgeschirmte Mensch nun entdeckt, dass ihm die Realität verdeckt blieb, eröffnet sich ihm nun die neue Realität, ist alles, was er nun erfährt eine neue Wirklichkeit. Die ihm eröffnete Wahrheit ist für den befreiten Menschen schwer zu akzeptieren, die Sicht auf sein Leben und seine Wahrheiten wurden durch eine einzige Erkenntnis von Grund auf verändert. Diese Wirklichkeit ist nicht rückgängig zu machen, es gibt keine Möglichkeit erneut unwissend zu werden. Und unbedeutend, wie dieses Wissen uns eröffnet wurde, und wie der Mensch darauf reagiert, mit Akzeptanz oder Verachtung, es lässt sich nicht auslöschen- Es gibt keinen Weg zurück in die Höhle.

Die Konfrontation mit einigen Antworten lässt sich jedoch, in manchen Fällen, nicht vermeiden. Denn die Momente zwischen der Unwissenheit und der Konfrontation mit der Situation sind die, die uns zeigen, wie unglücklich uns unser Wissen machen kann. Vor dem Wissen über den Tod einer geliebten Person lebte sie für uns. In unseren Gedanken lacht und weint diese Person, sie fühlt und sie tanzt, als wäre der Mensch unsterblich. Für den unwissenden Menschen existiert die Person noch und der Tod des Menschen scheint unmöglich. Doch mit dem Empfangen der Nachricht werden unsere Gedanken aus ihrer glücklichen und unverwundbaren Form genommen und die Wahrheit, der Sterblichkeit und der Trauer, lässt uns bewusst werden, dass man manchen Begebenheiten nicht entkommen kann, unwichtig, ob sie schwer zu verkraften sind.

Zusammenfassend lässt sich schließen, dass es viele Dinge gibt, die wir nicht erfahren wollen, doch manchen kann man nicht entkommen. Manche Antworten und Wahrheiten lassen sich nicht unentdeckt, egal wie sehr man ihnen entkommen will. Doch es ist möglich, glücklich zu werden, trotz Wissen oder Unwissenheit, man muss sich nur im Klaren darüber sein, wie man sich mit allen Antworten und Wahrheiten, die sich einem eröffnen, auseinandersetzt. Und ob man wartet, wie sich das Leben und die Realität ergibt oder ob man selbst seine Neugierde befriedigt, sich seine Fragen selber stellt und die Antworten sucht und akzeptiert, wie sie sind. Meiner Meinung nach macht das Wissen uns weder glücklich, noch unglücklich oder niedergeschlagen. Denn egal, für welche Perspektive du dich entscheidest, Antworten oder Ahnungslosigkeit, beide Optionen lassen sich nicht verhindern. Es liegt bei jedem Menschen allein, ob er seine Entscheidung akzeptiert und so auch aus schweren Situationen und Ereignissen sein Glück entnehmen kann.